18:00
Vortrag von Prof. Albert Meier
Was man in Deutschland seit jeher als ›Sturm und Drang‹ bezeichnet, das gilt überall sonst als die erste markante Phase eines radikal neuen Kunst- und Literaturverständnisses: als der Einstieg in die ›Romantik‹. Dass Goethe dabei die Vorreiter-Rolle übernimmt, ist ganz wesentlich dem Glücksumstand geschuldet, dass er 1770 in Straßburg Johann Gottfried Herder begegnet ist.
Im Angesicht der für spezifisch ›deutsch‹ gehaltenen Gotik hat Herder in Goethe das Interesse an einer ›unfranzösischen‹, nicht mehr von Regeln geleiteten Dichtung erweckt und ihn zugleich in dem Bewusstsein bestärkt, selbst zu ähnlich großen Leistungen wie Erwin von Steinbach, der vermeintliche Erbauer des Münsters, oder gar wie Shakespeare befähigt zu sein.
Seine Straßburger Erfahrungen bedingen in Goethe eine entschiedene Abkehr von der Rokoko-Ästhetik zugunsten einer Poesie des ›Charakteristischen‹, in der die individuelle Ausdruckskraft des jeweiligen Dichters frei zur Geltung kommen kann. In diesem Zusammenhang entstehen zunächst scheinbar formlose Hymnen wie Wanderers Sturmlied oder Prometheus, schließlich dann der Götz von Berlichingen und Die Leiden des jungen Werthers.